Gentherapie bei ß-Thalassaemia major
Autor: Prof. Dr. med. Holger Cario, Redaktion: Ingrid Grüneberg, Zuletzt geändert: 17.04.2024 https://kinderblutkrankheiten.de/doi/e269256
Inhaltsverzeichnis
Mit der Gentherapie ist es möglich, die ß-Thalassaemia major ursächlich zu behandeln, ohne dass dafür eine hämatopoetische Stammzelltransplantation von einem passenden Spender erforderlich ist. Dafür ist es notwendig, die Krankheitsursache, also das Fehlen der ß-Globin-Kette so zu korrigieren, dass die daraus entstehende Anämie und alle anderen Folgeprobleme der sogenannten ineffektiven Blutbildung verhindert werden. [CAR2022]
Formen der autologen Gentherapie
Der Ausgleich des Fehlens der β-Globin-Kette ist prinzipiell über zwei Wege möglich:
Additive Gentherapie
Durch Nutzung eines sogenannten lentiviralen Vektors (das heißt unter Mithilfe von Lenti-Viren als Transportmittel) wird ein gesundes β-Globin-Gen in die Blutstammzellen eingebracht, die sich dann im Knochenmark vermehren und ausreifen. [KUN2020a]
Gen-Editierung
Während der Schwangerschaft enthält das Blut des Ungeborenen (Fetus) eine besondere Form des Hämoglobins, die fetales Hämoglobin genannt wird (HbF). Dieses HbF besteht aus einem Paar Alpha-Ketten (oder kurz: α-Ketten) und einem Paar Gamma-Ketten (oder kurz: γ-Ketten). Fetales Hämoglobin hat dieselbe Funktion wie das Hämoglobin bei älteren Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen: den Transport von Sauerstoff im Körper. Bei gesunden Säuglingen, also von der Geburt bis etwa zum zweiten Lebenshalbjahr wird diese Aufgabe weiterhin vom HbF durchgeführt. Bei Vorliegen einer ß-Thalasaemia major werden die Blutstammzellen gentechnisch so verändert, dass das Gamma-Globin in viel stärkerem Maße gebildet wird, als es normalerweise jenseits des Neugeborenenalters möglich ist. Durch die Gen-Editierung wird eine ausreichende Menge fetalen Hämoglobins (HbF) auch nach der Geburt gebildet.
Bei der Gen-Editierung können entweder modifizierende Faktoren ebenfalls mit einem lentiviralen Vektor in die Zellen eingeschleust werden oder solche Faktoren, wie beispielsweise die Genschere CRISPR/Cas9, können, nachdem die Blutstammzellen porös gemacht worden sind, direkt in den Stammzellen eingebracht werden .
Der wichtigste alternative gentherapeutische Ansatz liegt derzeit in der CRISPR/Cas9-basierten Ausschaltung des BCL11A-Gens in blutbildenden Stammzellen (exa-cel, CTX001; Fa. Vertex) [FRA2021].BCL11A ist der wichtigste Hemmer für die Bildung von fetalem Hämoglobin (HbF) in der Blutbildung jenseits des Neugeborenenalters. Inzwischen liegen umfangreiche positive Ergebnisse aus klinischen Studien für diese Form der Gentherapie vor.
Die Europäische Kommission hat im Februar 2024 eine bedingte Zulassung für Geneditierung erteilt, und zwar für Patienten ab 12 Jahren mit transfusionsabhängiger Beta-Thalassämie, die für eine HSZT geeignet sind und für die kein passender verwandter Spender zur Verfügung steht.
Bisherige Erfahrungen mit der Gentherapie
Erstmalig wurde im Jahr 2010 über eine langfristig heilende (kausale) Therapie bei ß-Thalassaemia major durch eine additive Gentherapie [CAV2010] unter Verwendung eines lentiviralen Vektors (Betibeglogene autotemcel (beti-cel)) berichtet, der ein an einer Stelle mittels eines Aminosäureaustausches modifiziertes β-Globin-Gen (βA-T87Q) enthält.
Erste Daten zu einer größeren Kohorte von Patient*innen, die erfolgreich mit beti-cel behandelt wurden, wurden 2018 publiziert. Dabei wurde bei der Mehrzahl der Patient*innen mit mindestens einem β+-Allel oder mit HbE/β-Thal eine langfristige Transfusionsfreiheit erzielt. Auf der Basis dieser Daten erfolgte 2019 durch die Europäische Zulassungsbehörde (EMA) die Zulassung der Therapie mit beti-cel (Zynteglo®) für Patient*innen > 11 Jahre mit mindestens einem β+-Allel oder mit HbE/β-Thal, für die kein HLA-identischer verwandter Spender für eine hämatopoetische Stammzelltransplantation verfügbar war.
Als erstem europäischen Land stand in Deutschland Anfang 2020 beti-cel (Zynteglo®; Fa. BluebirdBio) entsprechend dieser Indikation für die Behandlung von Patienten*innen mit Thalassaemia major zur Verfügung. Die Herstellerfirma hat jedoch im April 2021 ihr Produkt vom Europäischen Markt genommen und die Zulassung durch die EMA zurückgegeben.
Durchführung der autologen Gentherapie
Gentherapien verändern das Erbgut von Blutstammzellen. Erfolgt eine Gentherapie mit körpereigenen Blutstammzellen, wird sie als autolog bezeichnet. Normalerweise befinden sich die Blutstammzellen im Knochenmark, wo sie für die Herstellung der verschiedenen Blutzellen zuständig sind. Um sie einfacher gewinnen zu können, werden sie mit Hilfe eines Medikaments, dem G-CSF, dazu angeregt, in die Blutbahn zu wandern. Dort werden sie mittels einer Blutwäsche (Apherese) aus dem Blut des Erkrankten entnommen.
In die Blutstammzellen des Erkrankten wird im Labor entweder unter Mithilfe eines Virus als Transportmittel – dem viralen Vektor – eine funktionstüchtige Genvariante eingeschleust oder die Zellen werden porös gemacht und über diese Poren wird die CRISPR/Cas9-Genschere eingebracht. Die veränderten Blutstammzellen werden mittels einer Infusion in das Blut zurückgegeben und wandern von dort zurück in das Knochenmark. Es erfolgt nur eine einmalige Gabe.
Vor der Infusion der veränderten Blutstammzellen werden die Patienten zuvor mit einer Chemotherapie (Konditionierung) behandelt. Derzeit wird dafür das Medikament Busulfan verwendet. Dadurch wird die Anzahl der Zellen im Knochenmark verringert und Platz für die Aufnahme der veränderten Blutstammzellen geschaffen. Diese genetisch veränderten Blutstammzellen des Patienten ermöglichen nun die Produktion ausreichender Mengen von funktionstüchtigem Hämoglobin.
Nebenwirkungen der Gentherapie
Die Nebenwirkungen der Gentherapie halten sich - angesichts der Schwere der Erkrankung - in einem vertretbaren Rahmen.
Bedingt durch die Vorbehandlung (Konditionierung) des Patienten, derzeit mit Busulfan, können entsprechende Nebenwirkungen auftreten:
- Es kann bei einzelnen Patienten zu einer Lebervenenverschlusskrankheit (venoocclusive disease) der Leber kommen.
- Da durch die Behandlung mit Busulfan die Zellen im Knochenmark stark vermindert oder vollständig zerstört werden, kommt es meist zu einer vorübergehenden Blutarmut (Anämie), sowie einem vorübergehenden Mangel an weißen Blutkörperchen und Blutplättchen. In der Folge besteht ein erhöhtes Risiko für Infektionen und Blutungen.
- Auch vor dem Hintergrund entsprechend negativer Erfahrungen in der Vergangenheit besteht bei Gentherapien die Sorge vor der Entstehung bösartiger Bluterkrankungen (Leukämien). Inzwischen wurden aber vielfältige Veränderungen an den Vektoren vorgenommen, um dieses Risiko zu minimieren.
Bislang gibt es bei mehrjähriger Nachbeobachtung vieler mit einer Gentherapie behandelter Patienten keinen Hinweis darauf, dass sich eine Leukämie entwickelt. Abschließend wird diese Frage erst bei noch längerer Beobachtung einer großen Zahl von Patienten zu beantworten sein. Langzeituntersuchungen sind auch hinsichtlich der nachhaltigen Effizienz der Blutbildung von großer Bedeutung, um auszuschließen, dass letztlich nicht das klinische Bild einer Thalassaemia intermedia mit einer krankhaft gesteigerten Blutbildung resultiert; siehe auf kinderkrebsinfo unter Symptome Thalassämía Intermedia
Genetische Beratung
Wie bei jeder Erbkrankheit besteht auch bei einer Thalassämie das Risiko, dass die Erkrankung oder die Anlage dafür an die Nachkommen weitergegeben wird. Wie hoch dieses Risiko ist, hängt vom jeweiligen Vererbungsweg ab. Bei einer autosomal-rezessiv vererbten Erkrankung wie der ß-Thalassämie beträgt das Risiko, die Erkrankung an die Nachkommen weiterzugeben, 25%. Allen Menschen, in deren Familie die ß-Thalassämie schon einmal vorgekommen ist, sowie den Erkrankungsträgern mit Thalassämia minor und allen Patienten mit Thalassaemia major und intermedia (siehe „Erkrankungsformen“) wird daher empfohlen, bei Kinderwunsch eine genetische Beratung wahrzunehmen. Dort können die Risiken, die sich für das Kind ergeben könnten, bestimmt und besprochen werden. Auch das jetzt erkrankte Kind ist ein Erbträger.
Die Empfehlung, bei einem Kinderwunsch eine genetische Beratung wahrzunehmen, gilt für
- alle Menschen, in deren Familie die ß-Thalassämie schon einmal vorgekommen ist
- den Erkrankungsträgern mit Thalassaemia minor
- und allen Patienten mit Thalassaemia major und intermedia (siehe „Erkrankungsformen“)
Bitte fragen Sie das Behandlungsteam Ihres Kindes nach genetischen Beratungsstellen in Ihrer Nähe.
Referenzen
- Cario H: Diagnostik und Therapie der alpha- und beta-Thalassämien. Deutsche medizinische Wochenschrift (1946) 2022, 147:e128-e129 [PMID: 36584979]
- Frangoul H, Altshuler D, Cappellini MD, Chen YS, Domm J, Eustace BK, Foell J, de la Fuente J, Grupp S, Handgretinger R, Ho TW, Kattamis A, Kernytsky A, Lekstrom-Himes J, Li AM, Locatelli F, Mapara MY, de Montalembert M, Rondelli D, Sharma A, Sheth S, Soni S, Steinberg MH, Wall D, Yen A, Corbacioglu S: CRISPR-Cas9 Gene Editing for Sickle Cell Disease and β-Thalassemia. The New England journal of medicine 2021 Jan 21; 384: 252 [PMID: 33283989]
- Kunz JB, Kulozik AE: Gene Therapy of the Hemoglobinopathies. HemaSphere 2020, 4:e479 [PMID: 32984772]